Kreatives Schreiben forcieren
Kreativität ist längst nicht mehr nur Künstlern und Schriftstellerinnen vorbehalten. Als eine gefragte Schlüsselqualifikation wird sie schnell zum Verkaufsargument, zu einem Etikett für alles und nichts. In einer Welt, in der sogar PowerPoint-Präsentationen als „kreativ“ gelten, stellt sich die Frage: Wird Kreativität zunehmend inflationär?
Und weitergedacht: Vielleicht steckt gerade in dieser Übernutzung ein paradoxes Signal: Wenn alles unter den Begriff „kreativ“ fällt, ist am Ende vielleicht nichts mehr wirklich schöpferisch. Doch was, wenn genau darin unsere letzte Chance liegt? Bleibt unsere mehr oder weniger entwickelte Kreativität am Ende der letzte Strohhalm, an dem sich der Mensch gegenüber der Maschine (KI) noch festhalten kann? Sind Techniken wie kreatives oder expressives Schreiben nicht nur literarische Spielwiesen, sondern das Rettungsboot für unsere kritische Denkfähigkeit? In einer Zeit, in der Algorithmen lernen, Gedichte zu schreiben, könnte ausgerechnet die echte, unberechenbare, menschliche Kreativität unser stärkstes Gegenmittel bleiben.
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Die Bedeutung des kreativen Schreibens für die Gesellschaft
Schreiben als zentrale Kulturtechnik ist tief verankert in dem, was wir als „Kultur“ begreifen. Im Sinne Bourdieus (1986) zählt das kulturelle Kapital – neben dem ökonomischen, dem sozialen und dem symbolischen – zu den vier tragenden Säulen gesellschaftlicher Teilhabe und Bedeutung. Doch in einer Zeit, in der Künstliche Intelligenz beginnt, Texte zu generieren, Sinn zu simulieren und Sprache zu automatisieren, gerät der traditionelle Stellenwert des Schreibens ins Wanken. Was einst Ausdruck individueller Weltdeutung war, wird nun von Maschinen imitiert. Umso dringlicher erscheint es, Schreiben als kulturelles Gut zu reflektieren und vielleicht komplett neu zu denken.
Ein offener Blick auf die Welt
Sich mit kreativem Schreiben die Sprache als unerschöpfliche Quelle zu erschließen, ist deshalb nicht nur für den Einzelnen von Bedeutung, sondern hat auch eine Wirkung auf die Gesellschaft. Denn: Kreative Denkprozesse spiegeln gesellschaftliche Realitäten wider, hinterfragen Normen und schaffen die Grundlage für eine nähere Auseinandersetzung mit Strukturen. So wird zum Beispiel das Erfinden und Erzählen von Geschichten beim Schreibprozess zu einem Spiegel der Gesellschaft. Es zeigt ihre Stärken, Schwächen und Herausforderungen auf und fördert außerdem den offenen Blick auf die Welt.
In einer Zeit, die zunehmend von Rationalität und Produktivität geprägt ist, erinnert uns das kreative Schreiben daran, dass Fantasie, Emotionen und individuelle Ausdrucksformen wichtige Werkzeuge sind, um nicht nur die richtigen Antworten zu finden, sondern auch, um wichtige Fragen zu stellen.
Übernehmen KI-Tools unser kritisches Denken, verlieren wir über kurz oder lang die Kontrolle über unsere eigenen Fähigkeiten. In anderen Bereichen, wie z.B. beim Kopfrechnen, ist das vielen von uns bereits passiert. Kritisches Denken und fundiertes Fachwissen sind deshalb mindestens ebenso essenziell wie die Fähigkeit prägnante Prompts zu formulieren, die kontext- und aufgabenrelevante Informationen bereitstellen. (Mehr dazu in: Kreativ bleiben – trotz KI)
Kreatives Schreiben: Warum?
„Der spielende und schreibende Mensch vermag sich an die ideale Einheit seines Selbst zu erinnern und diese zu rekonstruieren. Spiel und Schreiben erkunden die Möglichkeit, die sich durch Zufall und nicht durch Vorentwurf ergeben. Schreiben ist ein Spiel mit Worten, das Sprache und Wirklichkeit verbindet. Spielerisch lassen sich, unter Einbezug von Spieltugenden wie Aufmerksamkeit, Gelassenheit und Konzentration, eine neue Sprache, neue Welten und ein neuer Sinn entdecken.“ (Silke Heimes)
Kreatives Schreiben ermutigt dazu, auf persönliche Erfahrungen, Alltagserlebnisse, auf das eigene Ich, auf Gefühle und Körperwahrnehmungen und auf Bereiche des Un- und Unterbewussten sowie der Fantasie zurückzugreifen. Gleichzeitig kann es auch ein Mittel der Selbsterhaltung, eine Medizin gegen Erschöpfung und Stress werden (vgl. dazu den Artikel: Kognitiv gesund durch kreatives Schreiben).
Vergrößern Sie Ihren Wortschatz
Wer sich auf einfache kreative Schreibübungen einlässt, wird schnell feststellen: Mit der Zeit fließt es leichter. Kreativität ist wie Gras im Regen: je häufiger es regnet, desto lebendiger und saftiger wird sie. Und dieses schöpferische Wachsen bleibt nicht auf literarische Texte beschränkt. Es zeigt sich auch dort, wo man es zunächst kaum vermuten würde: in 0815-Texten, die wir im z.B. privat oder im Arbeitsalltag schreiben.
Der Effekt dahinter ist leicht erklärt: Unser passiver Wortschatz, also der Vorrat an Wörtern, den wir erkennen, aber selten aktiv nutzen, ist deutlich größer als unser aktiver. Doch genau dieser Schatz lässt sich heben. Durch regelmäßiges, kreatives Schreiben beginnen wir, Begriffe aus dem sprachlichen Hintergrund hervorzuholen und häufiger zu verwenden. Was wir einige Male bewusst einsetzen, wandert allmählich in den aktiven Wortschatz über. Viele kennen das Phänomen vom Fremdsprachenlernen.
Kreatives Schreiben bietet somit nicht nur Raum für Ausdruck und Experiment, sondern auch eine spielerische Möglichkeit, sprachliche Vielfalt zu reaktivieren. Mit einem erweiterten aktiven Wortschatz wird jeder Text – ganz gleich, wie sachlich oder zweckgebunden – lebendiger, präziser und überzeugender.
Wie Sie lernen, kreativer zu schreiben
Achtsamkeits-, Imaginations- und Schreibübungen versetzen Sie in die Lage, Dinge in Unordnung zu bringen und neu zusammenzusetzen. Sie vermögen den Ablauf der Zeit und die Ordnung des Raums zu verkehren und erlauben, Gewesenes als zukünftig zu denken und umgekehrt. Durch Kreatives Schreiben lassen sich die Grenzen der realen Welt überschreiben. Sie machen neue Wahrnehmungen und nehmen andere Deutungen vor.
Es entstehen neue Denk- und Schreibwege. Ungewöhnliche Wörter, Sätze und Konstrukte.
Da kreative (Schreib)Prozesse mit Anstrengungen zusammenhängen, wie intensives Nachdenken, Sprachlosigkeit, Wortfindungsschwierigkeiten, Blockaden aufgrund zu hoher Ansprüche an das Schreiben und an sich als Schreibende:n, negative Erfahrungen in Kindheit, Schul- und Studienzeit etc., können Schreibtrainer:innen eine wertvolle Unterstützung sein.
Vor allem, wenn die Schreibcoaches selbst schreiben und so zur wichtigsten Zutat werden, indem sie
- die eigene Beziehung zur Sprache einbringen/reflektieren
- eigene Schwierigkeiten beim Schreiben artikulieren
- den Schreibenden Erfolgserlebnisse ermöglichen
- nuancierte Erfahrungen mit den eigenen Texten mitbringen
- aus eigenen Texten vorlesen (bei denen sie unsicher sind, ob sie gelungen sind)
- die eigene Unsicherheit und Verletzlichkeit zeigen
- zum Ausprobieren ermutigen & das Selbstvertrauen stärken
Durch das eigene Schreiben festigen Sie die Fähigkeit, sich auszudrücken und es wächst das Vertrauen, fremde Texte einzuordnen und nach ihrer Qualität zu beurteilen. Außerdem entwickeln Sie eine Sensibilität für die Machart, den Aufbau, stilistische Feinheiten und Besonderheiten sowie ungewöhnliche Satzkonstruktionen. Handelt es sich bei dem Geschriebenen um Unüberlegtes oder steckt dahinter eine durchkomponierte Struktur?
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Wo finden Sie Ihre Inspiration?
- Das Unbewusste: Stellen Sie eine gute Beziehung zwischen Tagesbewusstsein und Unbewusstem her.
- Imagination/Vorstellungskraft: Nutzen Sie die Kraft der Fantasie, die Fähigkeit imaginäre Bilder zu sehen und schärfen Sie alle Sinne.
- Neugier: Sammeln Sie zusätzliches Wissen zu bestimmten Themen, die in Ihrem Leben eine Rolle spielen. Finden Sie Antworten auf Fragen, die Sie beschäftigen.
- Die Anziehungskraft des Unbekannten: Lassen Sie sich im Schreiben treiben, ohne zu wissen, wohin Sie das Schreiben führt. Beginnen Sie einfach mit einer vagen Ahnung und einem vagen Ziel.
- Spontaneität: Seien Sie spontan. Lassen Sie sich von dem leiten, das Ihnen im Augenblick in den Sinn kommt.
- Assoziationen/Brainstorming: Verbinden Sie sich aktiv mit Ihrer individuellen Gedankenwelt.
Die Lust und Mühen des Schreibens
Kreatives Schreiben geht einem – wie jede Tätigkeit – einmal besser und einmal schlechter von der Hand. Wir alle wissen: Schreiben kann auch schwer und mühsam sein. Und es handelt sich um einen Mythos, zu glauben, dass erfahrene Autor:innen in der Lage sind, gute Texte in nur einem Anlauf zu meistern. Die vielen Zwischenschritte, das Hadern mit einzelnen Passagen, Formulierungen und Wörtern, bleibt in der Regel unsichtbar.
Vorbereitung, Entwurf, Überarbeitung, Schlussredaktion sind ein Orientierungsmodell, das den Entstehungsprozess eines Großteils von Texten grob beschreibt. Ein nach diesen Schritten entstandener Text bringt für viele Autor:innen die größte Zufriedenheit. Im besten Fall fragen sie sich, wenn sie ihren Text nach längerer Zeit wieder lesen: Ist dieser gut geschriebene Text wirklich von mir?
Workshops aus dem Schreibatelier Tirol
Wollen Sie Ihre analogen Kreativitätstechniken auffrischen und neue Wege finden, um Ihre Ideen sprühen zu lassen? Dann lade ich Sie herzlich zu den Schreibatelier-Workshops zum Thema „Kreatives Schreiben“ ein! Es erwarten Sie praktische Werkzeuge, inspirierende Impulse und der Austausch mit Gleichgesinnten. Bleiben Sie neugierig, probieren Sie Neues aus und erhalten Sie sich Ihre Kreativität.
Ich freue mich auf Sie!
Dr. A. – Heidemaria Abfalterer – Schreibatelier Tirol
Quellen und weiterführende Links:
- Pierre Bourdieu: The Forms of Capital. In: John G. Richardson (Hrsg.): Handbook of Theory and Research for the Sociology of Education. New York (1986)
- zisch: zeitschrift für interdisziplinäre schreibforschung, 11 (2024)
- Silke Heimes: Kreatives und therapeutisches Schreiben – ein Arbeitsbuch, S. 62/63 (2008)
- Leonie Marie Pauléwicz: Die Auswirkungen des Kreativen Schreibens auf die Sprachlernmotivation im Deutschunterricht … (2022)
- https://ella-stein.at/wie-wichtig-ist-kreatives-schreiben/
- https://text-welten.com/warum-sich-kreatives-schreiben-lohnt/
- https://teech.de/wiki/kreatives-schreiben/macht-der-worte/
- https://markus-coenen.de/die-macht-des-schreibens/