Heute längst salonfählig: Schreiben für die Seele bzw. für die Psychohygiene. Als ich in den 80er-Jahren begann, mir „Dinge von der Seele“ zu schreiben, die mich beschäftigten, war das anders. In meiner Teenager-Zeit galt es vor allem, lässig zu sein: Man steckte Liebeskummer, Stress mit den Eltern oder in der Schule locker weg. Es gab in meinem näheren Umfeld keine Schulpsycholog:innen, sondern nur Schulärzt:innen. Dort holte man sich im Bedarfsfall eine Kopfschmerztablette oder ließ sich vom unbeliebten Turnunterricht befreien. Dass es einem schlecht ging, war nur im „richtigen“ Krankheitsfall erlaubt. Also, wenn man mindestens eine Schachtel Antibiotika brauchte.
Schwamm drüber
Alles andere waren Befindlichkeiten, die nicht ernst zu nehmen waren. Schwamm drüber. Gehen wir zur Tagesordnung über. Daheim und in der Schule. Kleinigkeiten wie eine Meinungsverschiedenheit oder Ärgernisse über Feund:innen, Lehrer:innen, Noten, zu wenig Taschengeld, Pickel oder eine generelle Unzufriedenheit mit sich selbst oder seinem Leben? Man sollte froh sein, dass man gesund ist. Sich am Abend hinzusetzen und einem Buch seine Gedanken geheimsten Gedanken anzuvertrauen: „Liebes Tagebuch …“ – wie lächerlich ist das denn? Peinlich. Unter meiner Würde. Und wenn das Tagebuch jemand findet und liest. Unvorstellbar.
Die Pubertätssklavin
Ich glaube, ich war so um die 16 und voll in der Pubertät. Ich erinnere mich noch an das Gefühl, meine Mama zu „hassen“, weil ich mich von ihr gleichzeitig wie ein Kind und wie eine „Sklavin“ behandelt fühlte. (Das war damals mein Eindruck, weil ich dies oder das im Haushalt mithelfen musste und ich es ihr nicht recht machen konnte). Wir hatten uns über irgendeine Kleinigkeit gestritten. Ich schmollte in meinem Zimmer. Nie wieder würde ich ein Wort mit ihr reden. Davor würde ich mir die Zunge abbeißen.
Drauflosschreiben
Auf meinem Schreibtisch lag Schmierpapier, das ich zum Mathelernen verwendet hatte. Unterhalb einer (von mir) nicht lösbaren Gleichung war noch Platz auf dem Zettel. Da fing ich an, drauflos zu schreiben. Ich nahm mir kein Blatt vor den Mund. Schrieb an niemanden. Machte mir so richtig Luft. Tat mir leid. Ich ließ kein gutes Haar am Verhalten und Unverständnis meiner Mama. Wie konnte sie nur so sein? Was hatte ich ihr getan? Geht man so mit seinem Kind um? So wie sie will ich niemals werden. Ich fühlte mich sowas von im Recht. Mein eigenes Verhalten war auf alle Fälle richtig, ohne dass ich es in irgendeiner Form reflektiert hätte.
Reinigendes Gewitter
Vermutlich werfen andere Teenager ihren Eltern die Worte an den Kopf, die bei mir einige Seiten füllten. Ich konnte gar nicht mehr aufhören und kam vom Hundertsten ins Tausendste. Als ich, gefühlt nach Stunden, zu einem Ende kam, war ich frei. Was mich belastet hatte, stand nun auf einem Stapel von Seiten in meinem Zimmer.
Held:inn:en schreiben für die Seele
Bester Laune verließ ich mein Zimmer. Ich hatte meinen Groll überwunden. Ich fühlte mich auch gar nicht wie ein Sonderling, der seinem Tagebuch seine Geheimnisse anvertraut. Eher wie eine triumphierende Heldin, die siegreich aus einem Duell hervorgegangen war. Die Streitigkeiten (mit meiner Mama) waren für mich erledigt. Sie hatten sich in Luft aufgelöst. Meine Gedanken waren sortiert. Mein Kopf frei. Ohne mir darüber bewusst zu sein, hatte ich entdeckt, dass mir das Etwas-vom-Herzen-Schreiben guttut.
Für andere Herzen schreiben
Über die Jahre sind einige Seiten zusammengekommen. Fast immer ist es mir gelungen, mich in belastenden oder blockierenden Lebenssituationen zu sortieren und wieder handlungsfähig zu werden.
Mein Fazit: Was für den einen der Sport oder ein anderes Hobby leistet, ist für mich das Schreiben (für die Seele). Dafür bin ich dankbar. Es hat mein Leben bereichert. Heute kann ich sogar vom Für-andere-Herzen/-Seelen-Schreiben leben. Wie cool ist das denn?
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